Skip to content

Der oberdeutsche Präteritumschwund

Für mich, der vorher nur Englisch als Fremdsprache lernte, war es ein echtes Rätsel: Warum verwendet man oft in der gesprochenen Alltagssprache das Perfekt statt des Präteritums? Zum Beispiel:

Er ist letzte Woche ins Kino gegangen. = Er ging letzte Woche ins Kino.

Endlich habe ich die Antwort im Duden (2022)1 gefunden.

Verschwinden des Präteritums?

In der gesprochenen Alltagssprache hat das Perfekt weitgehend die Funktion des Präteritums als Vergangenheitstempus übernommen. Dieser Gebrauch des Perfekts macht es möglich, dass — anders als beim englischen »present perfect« — vergangenheitsbezogene Zeitadverbiale auftreten können. Diese Adverbiale (z.B. im März 2021) verdeutlichen, dass die Betrachtzeit hier tatsächlich in der Vergangenheit liegt. (Wöllstein, Bibliographisches Institut 2022, S. 216)1

Jetzt vergleichen Sie mit dem »present perfect«:

We do not often use the present perfect with words that refer to a finished period of time, like yesterday, last week, then, when, three years ago, in 1970. This is because the present perfect focuses on the present, and words like these focus on the past, so they contradict each other.

Tom has hurt his leg; he can't walk.

Tom hurt his leg last week. (NOT Tom hast hurt his leg last week.)

(Swan 2016, Abschn. 48.2)2

Die allmähliche Verdrängung des einfachen Präteritums durch das Perfekt wird auch als oberdeutscher Präteritumschwund bezeichnet. (Wöllstein, Bibliographisches Institut 2022, S. 356)1 Es gilt: Je nördlicher, desto mehr Verben stehen im Präteritum. Nach Süden hin nehmen die Perfektformen zu. (Fischer (2018)3, Fischer (2021, S. 336)4)

Das Perfekt fast immer das Präteritum ersetzen kann, aber der umgekehrte Fall kaum existiert. Das Perfekt bedient auch in der Vergangenheit abgeschlossene Handlungen, wie sie am deutlichsten in narrativen Texten vorkommen, die von vergangenen Ereignissen berichten:

Sie hat damals drei Stunden lang gearbeitet.

Im Englischen und in den meisten anderen germanischen Sprachen lässt sich die alte Perfektbedeutung noch sehr gut greifen, indem der resultative Bezug auf die Gegenwart dominiert, der Handlung somit nicht in der Vergangenheit abgeschlossen ist:

She has lived there for three years. ›Sie lebt hier seit drei Jahren (und tut es weiterhin)‹.

Deshalb werden englische Perfektformen im Deutschen oft in Präsensformen übersetzt. (Wöllstein, Bibliographisches Institut 2022, S. 356)1


  1. WÖLLSTEIN, Angelika und BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT (Hrsg.), 2022. Duden - Die Grammatik: Struktur und Verwendung der deutschen Sprache: Sätze - Wortgruppe - Wort. 10., völlig neu verfasste Auflage. Berlin: Dudenverlag. Der Duden in zwölf Bänden, Band 4. ISBN 9783411040506 

  2. SWAN, Michael, 2016. Practical English usage. Fourth edition. Oxford, United Kingdom: Oxford University Press, Abschn. 48.2. ISBN 9780194202428PE1106 .S94 2016 

  3. FISCHER, Hanna, 2018. Präteritumschwund im Deutschen: Dokumentation und Erklärung eines Verdrängungsprozesses [online]. De Gruyter. [Zugriff am: 19 Mai 2023]. ISBN 9783110563818. Verfügbar unter: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110563818/html 

  4. FISCHER, Hanna, 2021. Präteritumschwund im Deutschen: Neue Erkenntnisse zu einem alten Rätsel. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur [online]. 1 September 2021. Bd. 143, Nr. 3, S. 331–363. [Zugriff am: 19 Mai 2023]. DOI 10.1515/bgsl-2021-0027. Verfügbar unter: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/bgsl-2021-0027/html 

  5. Oberdeutscher Präteritumschwund, 2022. Wikipedia [online]. [Zugriff am: 19 Mai 2023]. Verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Oberdeutscher_Pr%C3%A4teritumschwund&oldid=224830435 

Comments